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12.04.2011

Homöophatische Kügelchen, Shiatsu-Massagen und Rehakurse: Vor allem ältere Menschen zahlen immer mehr aus eigener Tasche für Gesundheitsprodukte oder Pflegeleistungen – die Anbieter sehen in diesem Bereich riesige Chancen


Von Tina Stadlmayer

Sie leisten sich Wellnessreisen, Vitamin-Cocktails, Behandlungen beim Heilpraktiker oder einen medizinischen Dienstleister, der sie rundum betreut. Immer mehr Menschen wollen gesünder leben und geben deshalb mehr Geld für Gesundheit aus. Alle Ärzte und 65 Prozent der Krankenhäuser bieten Selbstzahlern individuelle Gesundheitsleistungen an, zum Beispiel Prävention, Impfungen, Knochendichtemessungen oder Aufbaukuren.

Der zweite Gesundheitsmarkt – das sind alle Leistungen, die Kassen nicht übernehmen – wächst jedes Jahr um sechs Prozent. Er macht mittlerweile 20 bis 25 Prozent des gesamten Gesundheitsmarktes aus. Damit gehört er zu den Wirtschaftsmotoren. 2003 zahlten die Deutschen 49 Mrd. Euro für private Gesundheitsleistungen, 2010 waren es bereits 66 Mrd. Euro, pro Person sind das etwa 900 Euro im Jahr. Die Deutschen wären sogar bereit, noch mehr für ihre Gesundheit zu bezahlen – zum Beispiel für Vorsorgeuntersuchungen. Sie halten sich jedoch zurück, weil der Markt zu unübersichtlich ist.

Steffen Hehner, bei der Unternehmensberatung McKinsey für die Krankenkassen zuständig, nennt drei Gründe für den Boom bei den privaten Gesundheitsausgaben: „Erstens wurde die Erstattung bestimmter Produkte und Behandlungen durch die gesetzlichen Krankenkassen eingeschränkt. Zweitens nimmt die Zahl der älteren Menschen in Deutschland zu. Viele von ihnen gehören der Nachkriegserbengeneration an und haben ein gewisses Vermögen. Drittens steigt das Gesundheitsbewusstsein der Leute.“ Die privaten Krankenkassen hätten den Trend erkannt und arbeiteten an vielen Zusatzversicherungen. „Hier findet eine fundamentale Neuausrichtung statt“, sagt Hehner. Der zweite Gesundheitsmarkt sei jedoch kein Massenmarkt: „Es ist ein Markt für die wohlhabenderen Menschen.“ Etwas anders sieht das Joachim Kartte, Leiter des Kompetenzzentrums Pharma & Healthcare bei der Strategieberatung Roland Berger: „Fast alle Bevölkerungsgruppen, unabhängig vom Einkommen und der Bildung, möchten zunehmend etwas für ihre Gesundheit tun.“

Ein stark wachsendes Segment des zweiten Gesundheitsmarkts sind Wellnessangebote und Gesundheitsreisen. Axel Baur, Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft bei McKinsey, sagt: „Es gibt kaum noch ein gutes Hotel ohne Wellnessabteilung.“ Auch Functional Food verkaufe sich immer besser – also Nahrungsmittel mit Zusatzstoffen, die die Gesundheit fördern sollen. Gesundheitsexperten sind sich jedoch einig, dass hier auch überteuerte und wirkungslose Produkte im Angebot sind.

Sehr im Trend liegen die alternativen Heilmethoden. Da die gesetzlichen Krankenkassen heilpraktische Behandlungen nur dann bezahlen, wenn ein Arzt sie ausführt, gehören die Angebote der 26 000 in Deutschland niedergelassenen Heilpraktiker weitgehend zum zweiten Gesundheitsmarkt.

Über 60 Prozent der Deutschen haben schon einmal eine heilpraktische Behandlung in Anspruch genommen. „Besonders beliebt sind Homöopathie und Akupunktur, aber auch die Nachfrage nach manuellen Therapien wie Massagen, Chiropraktik und Osteopathie steigt“, sagt die Vizepräsidentin des Fachverbands Deutscher Heilpraktiker, Ursula Hilpert-Mühlig: „Auch Menschen mit psychosomatischen Erkrankungen suchen immer häufiger Heilpraktiker auf, vor allem dann, wenn ihnen die Schulmedizin nicht helfen konnte.“ Großes Interesse bestehe auch an Beratung zur Ernährung und zur Lebensführung. Die weitgehend in Vergessenheit geratene traditionelle europäische Medizin lebe ebenfalls auf: zum Beispiel Kneippsche Verfahren oder die heimische Heilpflanzenkunde.

Auch der Fitnessmarkt wächst. Viele ehemalige Kraftsportcenter haben inzwischen spezielle Angebote für Frauen, Schwangere oder Menschen mit gesundheitlichen Problemen im Programm. In einigen Fällen beteiligen sich die Krankenkassen an den Kosten für die Kurse. Physiotherapeutische Behandlungen finanzieren dagegen überwiegend die Kassen – aber auch hier bezahlen die Patienten weitergehende Therapien aus der eigenen Tasche.

Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass viele physiotherapeutische Praxen inzwischen aussehen wie Fitnesscenter. Einige haben auch privat zu zahlende Yoga-Kurse, Shiatsu-Massagen oder Wellnessbehandlungen im Angebot.

Graue Geschäfte

Der Rehamarkt ist in den vergangenen Jahren ebenfalls kontinuierlich gewachsen. Rehabilitationsbehandlungen nach Krankheit oder Unfall zahlen zum größten Teil die Krankenkassen und Rentenversicherungsträger.

Aber auch die über 1200 Rehaeinrichtungen bieten inzwischen zahlreiche Therapien und Kurse an, die Patienten privat bezahlen. Einen bedeutenden Anteil am zweiten Gesundheitsmarkt haben Dienstleistungen und Produkte für ältere Menschen. Im Jahr 2035 wird in Deutschland jeder Dritte älter als 60 Jahre sein. Das Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen sieht ein Potenzial von bis zu einer Million Arbeitsplätzen, wenn die Bedürfnisse und Kaufkraftpotenziale der Älteren schon heute mehr beachtet würden. Ein Drittel der Älteren habe Interesse an wohnbegleitenden Dienstleistungen wie Notruf, Pflege, Essen auf Rädern. Wiederum ein Drittel der Interessierten sei bereit, über die Leistungen der Pflegeversicherung hinaus dafür zu bezahlen.

Zurzeit sind in Deutschland 2,3 Millionen Menschen pflegebedürftig, ihre Zahl wird sich in den nächsten 30 Jahren auf über vier Millionen erhöhen. Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden heute von Angehörigen versorgt – allein oder gemeinsam mit Pflegediensten. 700 000 Menschen leben in Pflegeheimen. Die Versicherung deckt jedoch nur die Basisversorgung ab. Viele Dienstleistungen, Produkte und einen deutlichen Teil der Heimkosten zahlen die Patienten oder ihre Familien selbst. Von den 18 Mrd. Euro, die pro Jahr in Pflegeheimaufenthalte fließen, zahlen Patienten 6,5 Mrd. Euro privat.

Pflegedienste und Heime beschäftigen 810 000 Arbeitnehmer, fast so viele wie die Automobilbranche Automobilbranche. „Das sind sichere, konjunkturunabhängige Arbeitsplätze“, sagt Bernd Meurer, Chef des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste. Doch die Pflegebranche hat ein großes Problem: „Schon jetzt können die Pflegedienstleister aufgrund des eklatanten Fachkräftemangels viele Aufträge nicht mehr erfüllen“, sagt er: „Der Fachkräftemangel führt zur Überforderung der Pflegekräfte, dort wo zu wenige Stellen besetzt sind, und zu einem Anstieg der Schwarzarbeit unter zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen.“ Um die Situation zu entschärfen und für die Zukunft vorzusorgen, müsse die Regierung die Zuwanderung von qualifizierten Kräften vereinfachen und den Wiedereinstieg von Frauen nach der Familienphase fördern.

Weil die Leistungen der Pflichtversicherungen oft nicht ausreichen, ist eine Versorgungslücke entstanden. Diese schließen zunehmend private Versicherungen gemeinsam mit spezialisierten Dienstleistern. Ein solches Serviceunternehmen ist Almeda.

Es bietet Krankenkassen und Versicherungen etwa Pflege- und Rehabilitationsleistungen an. Der Kunde kann sie über Zusatzversicherungen in Anspruch nehmen. Die Firma arbeitet mit Pflege- und Fahrdiensten zusammen und organisiert etwa Hausnotruf, Menüservice oder Krankenpflege. „Dieser Bereich wird weiter kräftig wachsen, denn immer mehr ältere Menschen leben allein und wollen so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld bleiben“, sagt der Geschäftsführer von Almeda, Stefan Kottmair. Die Firma vermittelt auch die behindertengerechte Ausstattung von Wohnungen. Neue Angebote sind Blutdruck- oder Blutzuckermessgeräte, die ihre Daten automatisch an die Firma übermitteln oder Bewegungssensoren, die rückmelden, wenn der Patient gestürzt ist.

Solche Assistenzsysteme auf der Basis moderner Kommunikationstechnik gehören für den Roland- Berger-Experten Joachim Kartte zu den wichtigsten Zukunftstrends: „Der Bedarf an E-Health steigt.

Gesundheitsdaten werden zu Hause gemessen und elektronisch übermittelt“. Die Wohnungswirtschaft biete inzwischen mit E-Health ausgestattete Häuser an. Bislang hielten sich die Käufer noch zurück. „Die Anbieter setzen aber darauf, dass eine neue Generation von technikaffinen, mit dem Computer vertrauten Silver Agern diese Angebote nutzen wird“, sagt Kartte. Das Bundesforschungsministerium fördere entsprechende Systeme. Auch außerhalb des Hauses setzt sich die Telemedizin langsam durch.

Im Rahmen des Programms Teutovital bekommen Rehapatienten etwa beim Wandertraining im Teutoburger Wald ein Herz-Handy, das die Daten an ein Herzzentrum übermittelt. Wenn es dem Patienten schlecht geht, kommt sofort Hilfe.

Ein zweiter Zukunftstrend hängt ebenfalls mit der alternden Gesellschaft zusammen. Kartte: „Aufgrund des zunehmenden Fachkräftemangels haben die Unternehmen großes Interesse daran, dass ihre Leistungsträger nicht krank werden.“ In Zusammenarbeit mit spezialisierten Anbietern organisieren und finanzieren sie für ihre Angestellten zum Beispiel Fitnessangebote, Rückenschulen, Ernährungs- und Lebensstilberatung, Raucherentwöhnung oder Gesundheitsreisen.

Almeda-Geschäftsführer Kottmair hat einen weiteren Trend ausgemacht. Seine Firma bietet einen Service namens Gesundheitsmanager an. Die Mitarbeiter erinnern zum Beispiel an Impftermine und Vorsorgeuntersuchungen. „In letzter Zeit steigen bei uns die Anfragen von Selbstzahlern“, sagt Kottmair. Er kann sich vorstellen, diese Leistung in Zukunft nicht nur über die Versicherungen, sondern auch Privatkunden direkt anzubieten.

Nach der Roland-Berger-Studie „Der Zweite Gesundheitsmarkt“ sind die Bürger bereit, mehr Geld als bisher für private Gesundheitsleistungen zu zahlen: „Sie halten sich noch zurück, weil der Markt zu unübersichtlich ist“, sagt Kartte. Er schlägt eine Stiftung Gesundheitstest vor: „Wie bei der Stiftung Warentest könnte man sich hier über die Qualität der Angebote schlau machen.“ Von der Politik fordert er, Zertifizierungs- und Testsysteme für Gesundheitsanbieter zu entwickeln, Geschäftsideen zu fördern – zum Beispiel durch Ideenwettbewerbe – und Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen, etwa zum Präventionsberater.

12.04.2011 / Tina Stadlmayer

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