Der feministische Traum von der gerechten Gesellschaft

04.09.1995

Der Traum von einer gerechten Gesellschaft.

Keiko Ochiai, japanische Feministin und Geschaeftsfrau, kaempft fuer Menschenrechte und Gleichberechtigung.


"Fuenfzig Jahre sind seit dem Ende des Krieges vergangen - diese fuenfzig Jahre sind mein Leben" sagt die zierliche Frau mit der Igelfrisur und lacht. Sie weiss, dass man es ihr nicht ansieht, dass sie bereits ein halbes Jahrhundert alt ist. Keiko Ochiai ist in Japan eine bekannte Figur. Die streitbare Feministin tritt oft im Fernsehen auf, besitzt einen grossen Kinder- und Frauenbuchladen und ein Bio-Restaurant.

Ausserdem hat sie ueber 50 Sachbuecher und Romane veroeffentlicht. Sie begann ihre Karriere als Rundfunk-Moderatorin.Wegen ihrer unverbluemten Art war Keiko Ochiai bald im ganzen Land als "Lemon-Chan" (Zitroenchen) bekannt. In ihrer Mitternachtssendung sprach sie ueber den Vietnam-Krieg, die Friedensbewegung, Auslaender in Japan und den Pruefungsstress an den Schulen: "Ich erfuhr, dass das Thema ,Menschenrechte' viele Leute interessiert".Acht Jahre spaeter gruendete sie das "Crayon House" - heute ist es der groesste Kinder- und Frauenbuchlanden Japans. Sie sagt: "Ich moechte den Kindern etwas nahebringen, das ihre Seelen weit macht." In der Mitte des Verkaufsraumes steht ein grosser Tisch, an dem einige Kinder sitzen und in Buechern schmoekern. Nicht nur japanische Werke, auch deutsche, engliche und franzoesische Klassiker im Original sind zu haben. Im zweiten Stock gibt es "paedagogisch wertvolles", aber teures Holzspielzeug aus Europa.Im Keller des Hauses ist ein Bio-Restaurant - eine Seltenheit in Tokio und immer gut besucht.

Hier treffen sich engagierte Tokioter Feministinnen und Oekofreaks. Aber auch Hausfrauen und Muetter, die mit der Frauen- und Umweltschutzbewegung nichts zu tun haben, kommen zum Mittagessen. Im dritten Stock des "Crayon House" stehen 30 000 Frauenbuecher in den Regalen. Die Besitzerin des Ladens sagt, zur Zeit verkaufe sie besonders viele Werke ueber Selbsterfahrung und Meditation.Vor einigen Jahren verfasste Keiko Ochiai ein Buch ueber das Thema Vergewaltigung und brach damit ein Tabu. Das Werk trug den englischen Titel "Rape". Die Autorin sagt dazu: "Ich haette den japanischen Titel Vergewaltigung bevorzugt, denn durch das Fremdwort wird das Verbrechen abgeschwaecht." Anfangs kauften viele Maenner das Buch, weil sie es fuer einen Porno hielten. Keiko Ochiai sagt, in ihrem Land gebe es genauso viele Vergewaltigungen wie anderswo. Japan habe den Ruf, besonders gewaltfrei zu sein, weil nur wenige Opfer darueber sprechen, was ihnen angetan wurde.

Noch immer herrsche in Japan die Auffassung eine Frau meine "Ja" wenn, sie "Nein" sage. Die Autorin sagt, sie sei die erste, die das Thema aus der Sicht der Frauen dargestellt habe. Zuvor seien nur Romane erschienen, in denen die vergewaltigten Frauen spaeter den Taeter liebten.Die bekannte Feministin berichtet, dass die japanische Frauenbewegung in den vergangenen Jahren "immer staerker" geworden sei: "Es ist ein breites Netzwerk entstanden, in dem zahlreiche Individuen zusammenarbeiten." Die Idee der Gleichberechtigung sei inzwischen weit vorgedrungen. Auch die Maenner - zumindest die juengeren - haetten ihre Einstellung geaendert. Neben der Gleichberechtigung liegt ihr die Erziehung der Kinder besonders am Herzen: "Leider gilt bei uns noch immer das Prinzip: Niemand soll auffallen." Viele Kinder, aber auch Erwachsene, litten darunter, "dass ihre Individualitaet nicht anerkannt wird."

Inzwischen gebe es immer mehr Eltern und Paedagogen, die das traditionelle Erziehungssystem ablehnten. Fuer diese Leute gibt Keiko Ochiai die Monatszeitschrift Kodomo (Kinder) heraus.In ihrem juengsten Buch, "Ich spiele nicht in Deinem Garten", greift sie ein weiteres Problem auf. Sie beschreibt die Nachteile der japanischen "Drei-Generationen-Familie" und versucht den Begriff "Familie" neu zu definieren: Nicht das Blut, sondern die Liebe muesse die einzelnen Mitglieder einer Familie verbinden. In Japan, wo die Bande des Blutes eine groessere Rolle spielen als in Europa, ist dies eine revolutionaere These. Die Feministin lebt ihre Theorie in der Praxis vor. Sie hat ihren Lebensgefaehrten nicht geheiratet, weil "die Liebe keine amtlichen Dokumente braucht".

Das japanische Familienregister, in dem eingetragen wird, ob ein Kind ehelich zur Welt kam, lehnt Keiko Ochiai strikt ab: das foerdere die Diskriminierung nichtehelicher Kinder.Die Autorin weiss wovon sie spricht. Sie ist das Kind einer unverheirateten Mutter: "Mich selbst hat es nie gestoert, aber andere wollten mir immer ihr Mitleid aufdraengen." Als sie nach dem Studium eine Stelle in einem Verlag suchte, hatte sie keine Chance, "weil ich den Namen meines Vaters nicht nennen konnte". Ihre Grossmutter und ihre Mutter hatten aehnliche Erfahrungen gemacht: "Meine Oma lebte immer im Stress, weil sie als junge Witwe und als berufstaetige Frau mit einer Tochter Geld verdienen musste."Auch Keiko Ochiais Mutter hatte es schwer, als sie in einer kleinen Provinzstadt als unverheiratete Frau ein Kind bekam: "Dieses Leben in Schande hat sie zermuerbt." Durch ihre Grossmutter und ihre Mutter, die beide von der japanischen Gesellschaft diskriminiert wurden, lernte die Aktivistin die Einschraenkung der Menschenrechte bei Frauen, Kindern und alten Leuten kennen: "Mit mir kaempfen immer drei Generationen meiner Familie fuer die Emanzipation."Keiko Ochiai uebertraegt ihre These, dass die Blutbande keine Rolle spielen duerfen, auch auf die Politik: "Es ist falsch, dass sich die Japaner noch immer fuer das auserwaehlte Volk halten und Minderheiten diskriminieren." Selbst Koreaner, die bereits in der zweiten oder dritten Generation in Japan lebten, duerften sich nicht an den Wahlen beteiligen. Die streitbare Linke kritisiert, dass die Konservativen in der regierenden "Liberaldemokratischen Partei" die japanischen Angriffskriege nach wie vor fuer gerechtfertigt halten und den Opfern eine Entschuldigung verweigern. Der sozialistische Premier Tomiichi Murayama sei zwar eine integre Persoenlichkeit, "aber er kann sich nicht gegen die Rechten in seiner Regierungskoalition durchsetzen."Die Feministin fordert, dass die Regierung den Zwangsprostituierten der japanischen Armee Entschaedigungen zahlt: "Ein privater Fonds, wie er jetzt geschaffen wurde, ist der falsche Weg." Dadurch werde die Verantwortung der Regierung fuer das Verbrechen verwischt. Sie appelliert an ihre Geschlechtsgenossinnen, sich an den kommenden Wahlen zu beteiligen: "Das Frauenwahlrecht ist erst fuenfzig Jahre alt.

Wir muessen es unbedingt in Anspruch nehmen."Keiko Ochiai sagt: "Es liegt an uns, eine Regierung zu waehlen, welche die Menschenrechte an die erste Stelle rueckt." Ihr Traum ist "eine Gesellschaft, in der sich alle Menschen wohl fuehlen, weil sie die selben Rechte haben."

Von Tina Stadlmayer (Tokio) 04.09.1995

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