Kleine Revolution im Kimono

17.08.1996

Japans "Alternativ-Geishas" brechen mit manchen Regeln


Es ist neun Uhr morgens in der alten Kaiserstadt Kioto. Fumika Tamura (25) und Kaori Takagi (23) räumen ihre Futons in den Schrank. In der kommenden Stunde verwandeln sich die beiden müden Schlafanzug-Trägerinnen in Unterhaltungsdamen. Sie knien vor ihren Spiegeln und legen zunächst das weiße Make-up auf. Roter Schimmer kommt in die Augenwinkel und auf die Augenbrauen; die Lippen werden sorgfältig nachgezogen. Die Ältere hat ihre Ausbildung als Unterhalterin bereits abgeschlossen - als fertige Geisha trägt sie bei ihren Auftritten eine Perücke aus kunstvoll geformtem Echthaar. "Das Ding wiegt zwei Kilo, seufzt die zierliche Frau, "es ist fürchterlich heiß darunter.

Ihre Kollegin, Kaori Takagi, ist noch "Maiko", also Auszubildende im Geisha-Beruf. Sie mußte in der vergangenen Nacht mit einem Holzblock im Genick schlafen - nur so behält die vom Spezial-Coiffeur gefertigte Maiko-Frisur ihre Form. Eine Geisha ("Person der Künste") ist keine Prostituierte. Auf hohen Holzpantoffeln und in wertvolle Kimonos gehüllt tanzen und singen die Unterhaltungsdamen bei Feiern im größeren und kleineren Kreis. Sie servieren ihren Kunden das Essen, schenken ihnen die Gläser voll und beherrschen die Kunst der Konversation. Während ihrer sechs Jahre dauernden Ausbildung in einer speziellen Geisha-Schule üben die angehenden "Damen der Künste" zu musizieren, zu tanzen und angenehme Gesellschafterinnen zu sein. Eine Geisha verkörpert für viele japanische Männer die Idealfrau: sie ist schön, geistreich, aufmerksam und untertänig. Als Auszubildende und auch als fertige Geisha leben und arbeiten die Unterhaltungsdamen in traditionellen Geisha-Häusern, in denen eine strenge Hierarchie herrscht. Das Kommando hat die Oka-San (Hausmutter), die oft auch Besitzerin des Etablissements ist. Eine Geisha, die sich selbständig machen will, muß zumeist warten, bis sie von einem reichen Gönner "freigekauft" wird. Sie braucht außerdem genügend Ersparnisse, um ihr eigenes Geisha-Haus zu eröffnen. Doch das Gewerbe stirbt aus. Vor dem Krieg gab es noch etwa 80 000 Geishas in Japan. Wegen der Konkurrenz durch Bardamen, die auch gleichzeitig des Sexwünsche ihrer Kunden erfüllen, arbeiten heute nur noch einige tausend Geishas in dem Jahrhunderte alten Beruf - die meisten von ihnen in der ehemaligen Kaiserstadt Kioto. Das Gewerbe der Geishas schreibt eine strenge Kleiderordnung und genaue Verhaltensregeln vor. Doch bei Kaori und Fumika geht es lockerer zu als in den traditionellen Häusern. Die beiden Frauen leben mit einer Freundin zusammen in einer Wohngemeinschaft, ohne von einer Hausmutter (Oka-San) kontrolliert zu werden. Im Bücherregal stehen Mädchen-Comics. Im Wandschrank liegen weiße Söckchen und Unterwäsche. Während die Frauen ihre prächtigen Kimonos anziehen, dröhnt Discomusik aus dem Recorder. Ein junger Mann im bunten T-Shirt hilft der "Maiko" beim schwierigsten Teil der Ankleideprozedur: Er wickelt den langen, breiten Gürtel (Obi) eng um ihren Körper. Die zierliche Frau hält die Luft an, und ihr Helfer zieht mit aller Kraft an beiden Enden des Stoffbandes. Dann bindet er den Gürtel am Rücken zu einer kunstvollen Schleife.

Discomusik, junge Männer in Jeans und T-Shirt - eigentlich undenkbar in einem traditionellen Geisha-Haus. Doch Fumika und Kaori haben das alte Gewerbe gründlich durcheinandergewirbelt. Kaori ist seit vergangenem Dezember in ganz Japan als "Revolutionärin im Kimono" bekannt. Damals verklagte sie ihre ehemalige Hausmutter, weil sie von ihr "wie eine Sklavin" behandelt worden sei. Sie kündigte ihre Arbeitsstelle und gründete gemeinsam mit ihrer Freundin Fumika die Geisha-Kooperative "Maiko no Yakata". Das hat es noch nie gegeben. "Der Laden läuft prima. Wir haben fast täglich einen Auftritt", sagt Managerin Chinami Kawakita (25). Wie es sich für eine Kooperative gehört, treffen die Frauen alle Entscheidungen gemeinsam. Kaori ist froh, die Fesseln der Tradition abgestreift zu haben: "Früher hat mich meine Chefin irgendwo hingeschickt, ohne mich zu fragen. Jetzt kann ich mir die Angebote raussuchen, die mir Spaß machen." Fumika ergänzt: "Wir lieben diesen Beruf, unsere Kimonos und die traditionellen Künste. Aber wir wollten uns von einer Oka-San nicht länger quälen lassen." Das Leben einer Alternativ-Geisha bietet Freiheit - ist aber auch anstrengend. Managerin Kawakita berichtet von nächtlichem Telefonterror. Erboste Traditionalisten werfen den jungen Frauen vor, das ehrwürdige Geisha-Gewerbe zu "beschmutzen".

Die neuen Geishas müssen auf manche Annehmlichkeit verzichten. So geht es zum Beispiel nicht mit dem Taxi, sondern mit dem Zug nach Osaka, wo sie um zwölf Uhr mittags bei einer Veranstaltung der Konditorgenossenschaft auftreten sollen. Mit winzigen Schritten trippeln sie durch das Menschengewühl am Hauptbahnhof. Einige Male werden sie von eiligen Passagieren angerempelt, aber im engen Kimono und mit Pantöffelchen an den Füßen geht es nun einmal nicht schneller. Kaori kauft sich zur Stärkung einen Vitamintrunk, den sie in aller Öffentlichkeit austrinkt. Dann schiebt sie sich einen Kaugummi zwischen die Zähne - wenn das eine konservative Oka-San sähe, bekäme sie wahrscheinlich einen Herzinfarkt. Im Zug hat die "Maiko" Schwierigkeiten mit dem Sitzen - die große Schleife drückt im Rücken. Nach dreißig Minuten kommen die Kimono-Damen in Osaka an. Dort werden sie vom Generalsekretär der Konditorinnung in Empfang genommen.

17.08.1996 / Tina Stadlmayer

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