Bildung treibt Wachstum an

09.02.2004

Das Land der Dichter, Denker und Erfinder hat abgewirtschaftet: Weil unser Bildungssystem verrottet, verschleudern wir unsere wichtigste Ressource: die Klugheit unserer Kinder. Dabei ist Wissenschaftlern längst klar, dass sich keine Investition so sehr lohnt wie die in Bildung


Von Tina Stadlmayer

Natürlich sind die Menschen in Deutschland nicht dümmer als anderswo. Doch weil anderswo deutlich mehr in bessere Bildung investiert wird, fällt Deutschland immer weiter zurück. Was Unternehmer und Bildungsexperten längst ahnten, bestätigte die Studie „Bildung auf einen Blick“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) vor wenigen Monaten eindrucksvoll. Die im internationalen Vergleich geringe Zahl von Akademikern in Deutschland ist mitverantwortlich für die aktuelle Wachstumsschwäche. In anderen Ländern trugen dagegen mehr und bessere Bildung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität bei.

Nur 38 Prozent der deutschen Schulabgänger haben Abitur oder einen vergleichbaren Abschluss. Das sind weniger als in den meisten anderen Ländern. In Finnland, das beim internationalen Schülervergleich Pisa am besten abschnitt, erreichen 87 Prozent die Hochschulreife, in Schweden 74 Prozent, in Australien 67 Prozent. Diese Länder stehen auf den Länderindizes zur Innovation ganz oben.

Auch der Anteil der Akademiker an der Gesamtbevölkerung ist in Deutschland deutlich geringer als in anderen Ländern. Nur 19 Prozent schließen die Hochschule ab – obwohl das Studium bei uns im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern kostenlos ist. In Finnland studieren 71 Prozent jedes Jahrganges, in Schweden und Australien fast 70 Prozent.

„ Wir verschleudern unser geistiges Potenzial“, warnt der Chef der Unternehmensberatungsfirma McKinsey, Jürgen Kluge. Ein Land ohne natürliche Rohstoffe könne es sich nicht leisten, seine Kinder nicht ihren Fähigkeiten entsprechend auszubilden. Kluge fordert: „Früh investieren statt spät reparieren.“ Dieter Lenzen, Präsident der Berliner Freien Universität, mahnt: „In Deutschland ist man noch dabei, die Schlafsessel auf der Titanic gerade zu rücken“.

Das Land brauche angesichts des drohenden Bevölkerungsrückganges eine radikale Bildungsreform. Bereits heute leidet die Wirtschaft unter einem Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Wenn wir so weitermachen, wird sich die Lage in den kommenden Jahren dramatisch verschärfen. Trotzdem leisten wir uns ein Bildungssystem, das Kinder aus einfachen Verhältnissen nicht fördert, das Schwache aussortiert und die Fähigkeiten der Hochintelligenten brach liegen lässt. Auch falsche Weichenstellungen gefährden die Leistungsfähigkeit Deutschlands. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Nur sieben von 1000 jungen Leuten schließen ein natur- oder ingenieurwissenschaftliches Studium ab. In anderen Ländern sind es 10 bis 15. Im globalen Wettbewerb hat Deutschland aber nur dann eine Chance, wenn es exzellente Wissenschaftler ausbildet, die konkurrenzfähige Innovationen entwickeln.

Bereits der Pisa-Schock vor zwei Jahren hat Deutschland aufgeschreckt: Das Land der Dichter und Denker landete beim internationalen Bildungsvergleich von 32 Ländern auf Platz 21, weit hinter den skandinavischen und angelsächsischen Ländern. Ein weiteres Pisa-Ergebnis: Nirgendwo hängt der Bildungserfolg der Schüler so deutlich von Ausbildung und Geldbeutel der Eltern ab wie in Deutschland. Kinder nichtdeutscher Eltern schnitten in allen Bereichen schlechter ab als deutsche Schüler. Fazit der Pisa-Studie: „Es gelingt nicht, soziale Defizite auszugleichen und leistungsschwache Schüler zu fördern. Es gelingt aber auch nicht, eine Elite zu bilden.“

Unternehmer, Handwerksmeister, Eltern, Lehrer und Professoren wussten es schon vor der Pisa-Studie: Deutschland steckt tief in der Bildungskrise. Bereits 1997 stellten die Chefs von 800 deutschen Ausbildungsbetrieben bei mehr als zwei Dritteln aller Hauptschulabgänger deutliche Schwächen beim Rechnen, in der Rechtschreibung und der Allgemeinbildung fest. Selbst bei Abiturienten monierten sie solche Defizite. Seitdem hat sich die Lage nicht verbessert. Doch trotz des Pisa-Schocks tut sich nur wenig. Wegen der leeren Kassen bei Bund und Ländern bleiben die notwendigen Investitionen auf der Strecke.

Dabei zahlt sich Bildung aus wie kaum ein anderes Investment: Der jüngste OECD-Bildungsbericht weist nach, dass sich Bildung nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für jede Volkswirtschaft rechnet. Die Wissenschaftler untersuchten die Bildungsrendite in 21 Ländern und kamen zu dem Schluss, dass ein Jahr mehr Ausbildung bei der gesamten arbeitenden Bevölkerung langfristig rund sechs Prozent mehr Output pro Kopf bringt. „Die Ausstattung mit Humankapital spielt eine zentrale wachstumspolitische Rolle“, argumentiert Hans-Peter Kloes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

Doch noch sei es in Deutschland völlig unüblich, Bildung als Investition zu sehen. Wer sich aber mit Bildungsökonomie beschäftigt, findet schnell sehr gute Argumente für deutlich höhere Bildungsausgaben – sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Dabei werden die Ausgaben, die ein Einzelner in seine Ausbildung oder die Gesellschaft in ihre Bildungsinstitutionen steckt, mit dem Nutzen daraus verglichen. Noch gibt es nur wenige und grobe Kosten-Nutzen- Analysen. Doch bereits sie zeigen, wie überraschend eine derartige ökonomische Betrachtung des Bildungssektors sein kann.

So liegt die Bildungsrendite eines Hochschulstudiums in den USA mit 15 Prozent beispielsweise deutlich über der Deutschlands mit geschätzten neun Prozent. Das ist zwar immer noch mehr, als eine Anlage in Aktien-, Rentenpapiere oder Immobilien langfristig bringt – und zeigt, dass kaum etwas lohnender ist als Investitionen in die eigene Fortbildung. Der Hauptgrund für den Unterschied aber liegt in der Studiendauer und dem späteren Eintritt ins Erwerbsleben. Das deutsche Gratis-Studium vermindert den Anreiz, schnell fertig zu werden, und damit die Rendite.

„Staaten mit Studiengebühren weisen oft eine geringe durchschnittliche Studiendauer auf und liegen bei der Rendite des Studiums auf den Spitzenplätzen“, sagt Kloes. Unterhalb der Universitäten – also für Schulen und Kindergärten – gibt es bislang noch kaum Studien zur Bildungsrendite. Doch es mehren sich die Hinweise, dass der deutsche Weg, mehr in Sozial- als in Bildungspolitik zu stecken, ein Irrweg ist. Denn Bildungsarmut ist erblich: Kinder ungebildeter Eltern haben in Deutschland schlechtere Bildungschancen. Das beginnt damit, dass Arbeitslose und Migranten ohne Bildungsabschluss ihren Nachwuchs häufig nicht in den Kindergarten schicken. Während der Schulzeit können sie ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen. Die Kinder von Akademikern schaffen dagegen meist ebenfalls einen Hochschulabschluss. Schon früh bereiten Eltern oder Nachhilfelehrer sie bei Bedarf auf ihre Prüfungen vor.

Allerdings: Vier von zehn Akademikerinnen verzichten heute aufs Kinderkriegen. Ganztagsschulen könnten diese Situation entschärfen. Sie würden den Müttern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern und den Kindern die Förderung zukommen lassen, die ihnen das Elternhaus nicht bieten kann. Das macht auch ökonomisch Sinn. Dass Kinder in Deutschland ein Armutsrisiko sind, hat vor allem mit dem Verdienstausfall der Mütter zu tun, die zu Hause bleiben.

Der Unternehmensberater Jürgen Kluge analysiert: „Bildung ist keine Kosten verursachende Versorgungsleistung, sondern individuell wie gesellschaftlich eine Investition, noch dazu eine lukrative.“ Besonders gut zahlen sich die Investitionen in die frühkindliche Bildung aus.

Fest steht, dass die Vernachlässigung der Elementar- und Primärbildung den Staat teuer zu stehen kommt. Rund vier Millionen Menschen in Deutschland sind Analphabeten – während in Ländern wie Japan jeder lesen und schreiben kann. Knapp zehn Prozent eines Jahrganges verlassen die Schule jedes Jahr ohne Abschluss. Diese Jugendlichen sind nicht ausbildungsfähig. Unter Migrantenkindern ist der Anteil derer, die keinen Abschluss schaffen, doppelt so hoch wie unter deutschen Schülern. Sie tragen ein hohes Risiko, keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. 56 Prozent der türkischen Migranten haben keinen Berufsabschluss.

Wissenschaftler haben festgestellt, dass Investitionen in die unteren Bildungsstufen die Zahl der Sozialhilfeempfänger senken und es zu weniger Verbrechen kommt. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sagt, die Jugendkriminalität habe in den vergangenen Jahren zugenommen, „weil die Welt der jungen Menschen immer mehr eine Winner-Loser-Kultur wird. Jahr für Jahr steigt der Anteil der Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben“. Im Vergleich zu 1991 wurden im Jahr 2000 doppelt so viele Minderjährige straffällig, nämlich mehr als 145 000. Für die Kosten der Jugendkriminalität ließen sich viele Lehrer einstellen.

Besonders deutlich ist die Misere beispielsweise in Berlin zu sehen: Weil es keine effektive Sprachförderung in den Kindergärten gibt, kommen viele Migrantenkinder und Kinder aus bildungsfernen deutschen Familien ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die Grundschule. Dort haben sie es von Anfang an schwerer als ihre sprachgewandten Mitschüler. Selbst wenn sie eines Tages den Hauptschulabschluss oder die Mittlere Reife schaffen, beherrschen sie grundlegende Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen nur mangelhaft.

Es gibt keine aktuellen Zahlen darüber, was diese Vergeudung von Ressourcen den Staat kostet. Fest steht aber, dass die meisten dieser Jugendlichen in den Arbeitsprozess integriert werden könnten, wenn sie frühzeitig gefördert würden. Darauf deuten auch die Erfahrungen der gemeinnützigen Hertie-Stiftung hin: „Wir fördern in mehreren Projekten die Deutschkenntnisse von Migrantenkindern in der Grundschule“, erzählt Claudia Finke. Die Rendite sei klar positiv: „Die Programme führen nach einer Anfangsinvestition zur Einsparung hoher Folgekosten im Sozialbereich.“

Dies gilt auch für Kindergärten und -krippen. Eine Schweizer Studie stellt fest: Jeder Franken, der in die Frühförderung und Ganztagsbetreuung von Kinder investiert wird, bringt drei bis vier Franken an die Gesellschaft zurück – in Form höherer Erwerbsbeteiligung, vermiedener Sozialleistungen und zusätzlicher Beschäftigung im Bildungssektor.

Unternehmensberater Kluge schätzt, dass die Rendite von Investitionen in die Früherziehung bei uns genau so hoch ist. Er kritisiert: „Das Studium ist in Deutschland fast kostenlos, die Kindererziehung dagegen ist sehr teuer und wird oft von nicht optimal ausgebildetem Personal durchgeführt.“

Bildungsforscher Birger Priddat von der Universität Witten/Herdecke sagt: „Hohe und erstklassige Investitionen in frühkindliche Erziehung sind nicht nur entwicklungspsychologisch gerechtfertigt, sondern darüber hinaus werden in dieser ersten Bildungsphase Investitionen in Humankapital getätigt, die am längsten anhalten.“ Er fordert höhere Investitionen in die Vorschulerziehung und den Ausbau von Ganztagsschulen.

In Schweden werden alle Lehrer, vom Erzieher an der Vorschule bis zum Fachlehrer, an Universitäten gemeinsam ausgebildet – und die besten sollen in die Vorschule. Bei uns gibt in den meisten Bundesländern keinen Vorschulunterricht. Warum Investitionen gerade hier hohe Renditen versprechen, lesen Sie morgen.

09.02.2004 / Tina Stadlmayer

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