Exodus der Forscher

08.12.2003

Angelockt durch bessere Forschungsbedingungen und höhere Gehälter ziehen viele deutsche Spitzenwissenschaftler in die USA. Trotz neuer Initiativen kann die Bundesregierung die Abwanderung ihrer talentiertesten Köpfe bisher nicht stoppen


Von Tina Stadlmayer

Wenn Aussicht etwas über Status sagt, dann hat Thomas Tuschl es geschafft. Der Biochemiker blickt von seinem Büro im zehnten Stock der Rockefeller University weit über den East River und die Steinwüste Brooklyns, bis der New Yorker Smog die Landschaft verschluckt. Und Tuschl hat es geschafft: Vor zwei Jahren veröffentlichte er Forschungsergebnisse über eine neue Methode, einzelne Gene in einer Zelle abzuschalten, – ein wichtiger Schritt, der die Genforschung vereinfacht und eine ganze Reihe weiterer Anwendungsmöglichkeiten eröffnet.

Der Forscher selbst hält selten inne, um den Blick aus dem Fenster schweifen zu lassen. Schnellen Schrittes eilt er hinüber ins Forschungslabor, wo elf Mitarbeiter an langen Tischen eine ähnliche Aussicht ignorieren, wechselt hier ein paar Worte, gibt dort einen Rat. Eile gehört für den 37-Jährigen zum Alltag. „Hier ist der Forschungsstil anders als in Deutschland“, sagt er. „Die Entschlusskraft und die Geschwindigkeit, mit der auf gute Arbeiten reagiert wird, sind viel größer.“

Tuschl erfuhr am eigenen Leib, dass die konkurrierenden Labors eine gute Idee sofort aufgreifen und an ihr weiterarbeiten. Als er seine wegweisende Arbeit veröffentlichte, setzten sofort mehrere der besten US-Forschungsinstitutionen Arbeitsgruppen auf das Gebiet an. Für Tuschl, der seine Methode am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen erarbeitete, war der Schritt in die USA Anfang 2003 eine logische Entscheidung. „In Deutschland hätte ich nicht die Mitarbeiter bekommen, die ich hier habe“, sagt er mit einer Handbewegung hinüber zum Labor. Junge Forscher hätten kaum Chancen, Labors aufzubauen, die unabhängig von alteingesessenen Professoren sind. „Finanziell und technisch ist Deutschland gut ausgerüstet, aber die Strukturen sind für junge Leute einfach nicht attraktiv.“

Jeder siebte in Deutschland promovierte Nachwuchswissenschaftler geht in die USA. Von rund 760 000 Gastforschern stellen die Deutschen dort die viertgrößte Gruppe, nach den Chinesen, Japanern und Briten. Drei von vier Nobelpreisträgern deutscher Herkunft arbeiten in Amerika. Attraktive Gehälter, klare Karrierechancen, wenig Bürokratie und mehr Möglichkeiten zu unabhängiger Arbeit locken vor allem junge Wissenschaftler an.

Mindestens ein Viertel aller deutschen Forscher, die ins Ausland ziehen, bleibt auch dort. „Leider sind es die Besten, die nicht mehr zurückkommen“, sagt Wolfgang Benz, Personalleiter der Pharmafirma Schering: „Sie wissen, dass sie gut sind, und werden von den Amerikanern umworben. Wir müssen diese Leute auch hofieren.“ Laut einer Studie des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft wollen sogar 43 Prozent aller deutschen Exilforscher nicht zurückkehren. Der „Brain Drain“ betrifft ganz Europa. Die EU-Kommission warnte im Sommer, die Abwanderung von Spitzenkräften über den Atlantik sei eine Bedrohung für die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents.

Für junge Wissenschaftler ist es inzwischen selbstverständlich, einen längeren Auslandsaufenthalt zu absolvieren. In den USA finden vor allem Naturwissenschaftler optimale Forschungsbedingungen.

Asiatische Boomländer werben um deutsche Betriebswirte. Wer einmal im Ausland studiert, den zieht es nicht unbedingt nach Deutschland zurück. Kommt vor Ort noch ein attraktives Jobangebot, sagen die meisten freudig Ja. „Die Einkommensstruktur von Wissenschaftlern in Deutschland muss als Aufforderung zum Auswandern verstanden werden“, schimpft der Ernährungswissenschaftler Michael Ristow im „Deutschen Ärzteblatt“. „Wissenschaftliche Tätigkeit wird insbesondere in den klinischen Fächern der universitären Medizin überwiegend als eine erwünschte Feierabend- und Wochenendbeschäftigung gesehen“, kritisiert der Akademiker. An kaum einer Uniklinik gebe es einen Ausbildungsplan für den ärztlichen Nachwuchs, der Forschung und Klinik integriere. Außerdem sei der Forschungshaushalt in Deutschland „Lichtjahre entfernt von dem der USA oder dem Großbritanniens.“

Die rot-grüne Bundesregierung hat das Problem erkannt. Keine Regierungserklärung, kein SPD-Parteitag vergeht, ohne den Aufruf zum „Wettbewerb um die besten Köpfe“. Bundeskanzler Gerhard Schröder predigt: „Technische Innovation, Forschung und Entwicklung sind der Schlüssel zur Zukunft unseres Landes.“ Doch die Realität sieht anders aus. Während die Deutschen im Jahr 2001 rund 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investierten, gaben die USA 2,8 Prozent aus, Schweden sogar 4,3 Prozent. Ausgerechnet bei der ökonomisch ergebnisträchtigen Förderung von gemeinsamen Forschungsprojekten mit der Wirtschaft drohen weitere Einschnitte. Wenn es bei den geplanten Kürzungen von etwa 200 Mio. Euro im Haushalt 2004 bleibt, könnten „keine neuen Projekte begonnen werden“, warnt Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft.

Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn weiß, dass es sich Deutschland eigentlich nicht leisten kann, seine besten Leute gehen zu lassen. Seit Jahren versucht sie, den Trend zu stoppen – mit geringem Erfolg. „Wir wollen deutschen Nachwuchswissenschaftlern, die im Ausland arbeiten, die besten Chancen zur Rückkehr anbieten“, versprach sie vor drei Jahren. Damals traf sie sich in Kalifornien mit jungen deutschen Forschern und warb für den Wissenschaftsstandort Deutschland. Doch die Job-Chancen für junge Wissenschaftler haben sich seitdem wegen der schlechten Konjunkturlage eher verschlechtert, und die Abwanderung nahm weiter zu. Dabei hat die Ministerin einiges versucht: Sie lobte unter anderem zwei hoch dotierte Forschungspreise aus. Der Sofia-Kovalevskaja-Preis mit individuellen Fördersummen bis zu 2,3 Mio. Euro ist höher dotiert als der Nobelpreis.

Bulmahn setzte mit ihrer Dienstrechtsreform außerdem durch, dass Professoren mehr nach Leistung bezahlt werden. Nach dem angelsächsischen Modell führte sie Bachelor- und Masterstudiengänge ein. Die vor zwei Jahren eingeführte Juniorprofessur soll jungen Akademikern die Habilitation ersparen und eigenständiges Arbeiten ermöglichen. Von den 800 bewilligten Stellen sind bislang 347 besetzt, 15 Prozent davon mit Wissenschaftlern aus dem Ausland. Für jede Juniorprofessur, die sie einrichtet, bekommt die Hochschule 60 000 Euro Bundesmittel. Trotzdem gibt es Kritik an der Neuerung: Viele Juniorprofessoren seien zu alt, könnten nicht selbstständig arbeiten und erhielten die für sie vorgesehenen Gelder nicht, heißt es in einer Studie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Auch bei den Nachwuchsforschern überwiegt Skepsis: „Wegen der Lehrverpflichtungen und des geringen Startkapitals hat man kaum Möglichkeiten zu forschen, soll aber nach drei Jahren möglichst viel publiziert haben. Es ist auch unsicher, ob man nach der befristeten Juniorprofessur eine feste Stelle bekommt“, kritisiert der in Zürich forschende deutsche Zellenbiologe Andreas Wenzel.

Die Bundesregierung begrenzte die Höchstdauer einer befristeten Tätigkeit im Wissenschaftsbetrieb auf zwölf Jahre, in der Medizin auf 15 Jahre. Damit wollte sie verhindern, dass sich Wissenschaftler von einer befristeten Stelle zur nächsten hangeln. Doch die Regelung bedeutet, dass viele Nachwuchsleute nach zwölf Forschungsjahren auf der Straße stehen.

Uwe Hunger, Autor der Studie „Brain Drain – Brain Gain“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, analysiert: „Die Bundesregierung versucht zwar, die Wissenschaftler aus dem Ausland zurückzugewinnen, gleichzeitig werden in der Forschung aber Stellen gestrichen. Man muss endlich erkennen, dass Wissenschaft und Forschung die Basis der wirtschaftlichen Entwicklung sind.“

Deutsche Forscher und Unternehmer, die auf qualifizierten Nachwuchs angewiesen sind, sind jetzt aktiv geworden. Im März haben sie sich zusammengetan und die „German Scholars Organisation“ (GSO) gegründet. „Unser Ziel ist es, deutsche Nachwuchswissenschaftler im Ausland zurückzugewinnen“, sagt Wolfgang Benz von Schering. Er ist Vizepräsident der GSO. „Viele, die in den USA sind, haben den Kontakt zu Deutschland verloren. Sie glauben, dass sie hier nicht gebraucht werden, und bewerben sich nur noch in den USA.“ Seit kurzem bietet die GSO deshalb auf ihrer Internetseite ein Karrierecenter an, in dem Wissenschaftler Kontakt zu Firmen und Forschungsstätten bekommen. Das erste große Stipendiatentreffen der GSO vor zwei Monaten in Palo Alto sei „ein großer Erfolg“ gewesen. 150 deutsche Studenten trafen sich mit Vertretern deutscher Unternehmen und Forschungseinrichtungen. „Die jungen Wissenschaftler waren froh, Kontakt zu uns zu bekommen“, erzählt Benz.

André Breuer ist einer der erfolgreichen Rückkehrer aus den USA. Der Projektleiter bei der Firma Quelle hat seine Stelle nicht über die GSO, sondern über die internationale Jobbörse „monster.com“ gefunden. Er sagt: „Ein Auslandsstudium ist heute ein Muss, wenn man einen vernünftigen Job haben will.“ In den USA hat er seinen „Master of Business Administration“ gemacht. Bei Quelle stehen ihm jetzt viele Chancen offen.

08.12.2003 / Tina Stadlmayer

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