Handwerk fordert eine Schulform für alle

22.11.2002

Dreigliedriges System soll Ganztagsunterricht bis zur neunten Klasse weichen · Hauptschüler sind zu schlecht gebildet


Von Tina Stadlmayer

Das deutsche Handwerk stellt das dreigliedrige Schulsystem in Frage. Als Konsequenz aus dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler bei der internationalen Bildungsstudie Pisa fordert der Baden-Württembergische Handwerkstag, Hauptschule, Realschule und Gymnasium sollten durch eine neunjährige Grundstufe ersetzt werden. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks unterstützt den Vorschlag.

Dieses Modell unterscheide sich grundsätzlich von den existierenden Gesamtschulen, betonen die Handwerksvertreter. Dort würden die Schüler nicht genügend gefördert und zu früh in verschiedene Schulzweige aufgeteilt. Wie in anderen Ländern müsse auch in Deutschland ganztags unterrichtet werden.

Nach dem schlechten Abschneiden Deutschlands in der Bildungsstudie war Kritik daran aufgekommen, dass im deutschen Schulsystem sehr früh eine Differenzierung der Schüler nach Leistung einsetzt. Erfolgreichere Länder dagegen halten Kinder unterschiedlicher Leistungsstufen in einem Klassenverband zusammen. Daraus zieht das Handwerk, dessen Vorschlag auf heftige Kritik treffen dürfte, jetzt die Konsequenzen.

Erst in der zehnten Klasse trennen sich die Wege der Schüler nach dem Vorschlag des Handwerkstags. Sie können dann zwischen einem allgemein bildenden Gymnasium, einem berufsorientierten Gymnasium und einer Berufsausbildung wählen. „Alle drei Schularten sollen gleichwertig nebeneinander stehen und die Schüler für die Universität und die Berufswelt qualifizieren“, erläutert Ekatarina Kouli, Bildungsexpertin des Baden-Württembergischen Handwerkstages.

In Finnland, dessen Schüler beim Pisa-Vergleich weltweit am besten abschnitten, ist das Schulsystem ähnlich organisiert.

Vorsichtig unterstützt der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Dieter Phillipp, die Idee: „Es könnte durchaus eine Alternative sein, die Entscheidung für die Schullaufbahn auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Zudem könnte die duale Ausbildung als Bestandteil der Oberstufe einbezogen werden – mit Option auf ein Hochschulstudium.“

Der unerwartete Vorstoß des als konservativ geltenden Handwerks zeigt, dass die Diskussion über die notwendige Reform des deutschen Schulsystems in Gang kommt. Die Bertelsmann-Stiftung hatte bereits im Sommer in ihrem Memorandum „Wir brauchen eine andere Schule“ einen ähnlichen Vorschlag gemacht. ZDH-Schulexperte Peter Kloas wirbt für das Modell: „Die Option, mit einem Ausbildungsberuf studieren zu können, wäre hilfreich.“ Das Handwerk brauche unbedingt leistungsstärkeren Nachwuchs. Zurzeit würden potenzielle Handwerker an die Realschule gelockt, „weil sie unbedingt die Fachhochschulreife wollen“. Realschüler landeten dann meist in kaufmännischen oder in IT-Berufen. Er bestätigt, dass die Handwerkstage in etlichen Bundesländern den baden-württembergischen Vorschlag unterstützen. Der Reformeifer des Handwerks hat einen offensichtlichen Grund: „45 Prozent der Hauptschulabgänger sind nicht oder nur bedingt ausbildungsfähig“, klagt Koula. Ausbilder kritisieren, dass Hauptschulabgänger im Lesen, Schreiben und Rechnen zu schlecht sind. Horst Storjohann, Sprecher der Hamburger Handwerkskammer, sagt: „Mehr und mehr Firmen stellen lieber gar keine Azubis mehr ein als schlecht ausgebildete Hauptschüler.“

Deshalb schlägt das baden-württembergische Handwerk jetzt vor, die Schule anders zu organisieren: Für alle Fünfjährigen soll die Vorschulpflicht eingeführt werden. Nur so könnten Entwicklungsdefizite beseitigt und die Sprachkompetenz verbessert werden. Darauf sollen die neunjährige Grundstufe und die anschließende Berufs- oder Gymnasialausbildung aufbauen.

Mit einer neuen Struktur sei es aber nicht getan, sagt Bildungsexpertin Koula. Die Schüler sollten bei der Bewertung ihrer Leistungen mit einbezogen werden. Auch die Lehrer bräuchten eine bessere Ausbildung und mehr pädagogische Kompetenz. Neue Lernmethoden sollten die individuelle Förderung ermöglichen.

Kaufhaus-Erbin Helga Breuninger aus Baden-Württemberg nennt die heutige Schule „Hundeschule“. Dort lerne man, an der Leine zu gehen. Sie wünscht sich eine „Katzenschule“, in der Individuen gefördert werden.

22.11.2002 / Tina Stadlmayer

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